Einfach Selbstliebe

von Nadja Lasko

Neulich, bei einem stillen Abendessen mit Freunden, brach einer von uns das Schweigen und teilte mit uns, was ihn bewegte:

„Ich denke darüber nach, was ich für die Liebe zu einem anderen Menschen zu geben bereit bin?“

Er hatte sich vor kurzem von seiner brasilianischen Freundin getrennt: Die Beziehung hatte die vielen interkulturellen Spannungen nicht überstanden. Als ich seiner Erzählung lauschte, entstand bei mir der Eindruck, dass im Raum noch viele Vorwürfe und das Schuldgefühl schwebten.

„Sie hat ja wegen mir, wegen der Liebe, ihre Heimat verlassen, weißt du.“

Ach, wie gut ich die Geschichte verstehen konnte! War ich doch selbst sowohl in der Situation der ausländischen Freundin, die aufgrund der Liebe zu einem Mann ihrer Heimat den Rücken kehrte , und  auch in der Situation der Beziehungspartnerin, die eines Tages auf die Bremse trat und die Beziehung beendete.

„Wie weit bin ich bereit  für die Liebe zu gehen?“, seufzte erneut der Freund und mir entwich eine andere Frage: „Wie weit bist du bereit  für die Liebe zu dir selbst zu gehen?“

Wir sprachen an diesem Abend  noch lange darüber, was die Liebe ist und was nicht, und ich erinnerte mich an die Zeit, als  mein Erwachen begann und an all die Begleiter auf meinem Weg.

Der Weg zur Selbstliebe – die Anfänge

Als ich in einer Großstadt Weißrusslands  aufwuchs, brachte man mir einiges bei.  Hier sind nur einige Beispiele: Als Frau bist du nur etwas wert, dein Leben ist nur dann erfüllt, wenn du einen Mann – egal was für einen, Hauptsache einen Mann! – bekommen und eine Familie gegründet hast. Für die Liebe, für den Mann und Familie, hast du dich aufzuopfern. Und Sexualität ist tabu und  schmutzig…

Als ich mit 22 Jahren nach meinem Studium nach Deutschland fuhr, hatte ich schon den Loser-Status und die Frauen in unserer Familie waren sehr in Sorge, denn ich war noch nicht verheiratet. In München angekommen genoss ich aber die neue Freiheit. Es war so, als wenn der Druck des Müssens und Nicht-Dürfens  von mir weggerückt wäre und ich stürzte in unterschiedliche Beziehungen mit Männern, in  Abenteuer und ins Ausprobieren, gerade so, wie sie mir über den Weg liefen.

Damals wusste ich gar nicht, welch einen wichtigen Schritt ich machte. Ich folgte einfach meinem intuitiven Impuls, mich aus dem engen Korsett zu befreien, das mir in meiner Heimat als meine Natur, als Gott gegeben und nicht hinterfragbar auferlegt wurde. Ich probierte mich aus und fing an, mich zu fühlen. Dabei ist mir bewusst geworden: Um mich lieben zu lernen, muss ich mich kennenlernen.

Die Geschichte ist schnell erzählt und doch habe ich eines verstanden: Das Kennenlernen seines Selbst ist ein zeitintensives Unterfangen, das wahrscheinlich ein ganzes Leben andauert.

Heute bin ich 40. Wenn ich in einem Fotoalbum das 22-jährige Mädchen von damals anschaue, kommt sie mir vor wie aus einer anderen Welt – angepasst und verschlossen, ganz anders als ich  heute bin. Wie eine schlafende Schönheit, die darauf wartet, von einem Traumprinzen wachgeküsst zu werden.

Auf der Suche nach dem Traumprinzen

So viele Jahre bin ich dem Irrtum aufgesessen, dass ein anderer, gerne ein Mann, mir mein Glück, mein erfülltes Leben, meine Liebe im Herzen beschert. Ich stürzte mich in eine Beziehung nach der anderen, war fast jedes Mal verliebt bis über beide Ohren, hatte Sehnsucht, vermisste ihn, er war mein ein und alles…  War er da für mich, so platzte ich vor Freude, fühlte mich bestätigt und in meinem Frau-Sein erfüllt: „Hier, hier ist es endlich, meine Liebe, mein Glück, meine absolute Verschmelzung!“ Hielt er sich jedoch fern und überließ er mich mir selbst, so stürzte ich sogleich ab in den Schmerz. Oh wie ich mich verlassen fühlte, unglücklich, wertlos und ungeliebt!

Er musste mich nur stark genug lieben, so unglaublich stark, dass wir eins werden könnten in einer Ausschließlichkeit, in der ich nur für ihn da bin, und er – nur für mich, in guten wie in schlechten Zeiten. Und wenn er mich so liebte,  würde er immer mit mir die Zeit verbringen wollen und jedes Mal, wenn wir zusammen wären, hätten wir eine Wahnsinnsfreude, Bombensex und Megaspaß! Sein sehnlichster Wunsch wäre es, mir als der Frau seines Herzens einen Heiratsantrag  zu machen und das selbstverständlich – ganz bald.

Ich wartete auf ihn. Und wartete. Und wartete. Darauf, dass all das und viel mehr eintreten möge, auf dass ich endlich glücklich, erlöst und erfüllt werden könnte – und wurde enttäuscht. Wie die schlafende Schönheit wartete ich  auf den Kuss eines Traumprinzen, um aufzuwachen und wieder anzufangen zu leben… Und unterwegs zu mir musste er nur noch kurz die Welt retten und noch 148 Mails checken und hat womöglich noch die Frechheit, sich für andere Prinzessinnen zu interessieren.

Die Lage wurde immer prekärer und mit jedem neuen Prinzen lastete immer mehr Druck auf meinen und auf seinen Schultern, ging es doch um nichts Kleineres als das Glück, die Liebe und den Sinn eines ganzen Lebens. Zwei Scheidungen und eine weitere bewegte Beziehung habe ich gebraucht, um schlussendlich zur Erkenntnis zu gelangen: Mein Traumprinz bin ich!

Ohne Traumprinz zur Selbstliebe

Ich bin die zu Erlösende und der Erlöser, ich bin das Empfangend-Weibliche und das Gebend-Männliche, ich bin das Leid und das Glück, in mir ist der Anfang und das Ende sowie das unvorstellbare Potenzial, mein Leben aus mir heraus zu erschaffen … Das kleine Mädchen in mir ist erwachsen geworden. Als erwachsene Frau bin ich dafür verantwortlich, mich selbst zu verstehen, mit mir selbst glücklich zu werden, mir zu geben, was ich brauche, mich zu achten, mich zu lieben …

Mich selbst zu lieben. Mich zu lieben. Zu lieben.

Diese Selbstliebe soll der friedvolle Ausgangshafen für alle weiteren Reisen in meinem Leben werden – für alle weiteren Lieben.

Selbstliebe heißt, die eigene Kreationsleistung anzuerkennen

Als ich das erste zarte Pflänzlein dieser Selbstliebe in mir vernahm, bekam ich eine Ahnung davon , wie sich mein Leben dadurch grundlegend ändern könnte. Alles würde ganz anders sein. Es würde keine Opfer und keine Täter mehr geben, keinen Kampf, keinen Schmerz, keine Angst … Es war, als wenn ein Schleier von meinen Augen gefallen wäre und ich begann zu erkennen: Vieles, was ich für wahr hielt, was ich missbilligte und nicht haben wollte, wofür ich die anderen verantwortlich machte, entpuppte sich als meine eigene Konstruktion.

Die Welt in meinem meist unbewussten Inneren bestimmt, wie ich die Außenwelt sehe. Meine Prägungen, Glaubenssätze, Einstellungen und Bedürfnisse erschaffen meinen Wahrnehmungsfilter. Durch diesen lasse ich nur das durch, was zu meinem Inneren passt und für mich Sinn macht. Das Innere bestimmt meine Interpretationen und die daraus entstehenden Gefühle. Ich bin der Schöpfer meiner Wirklichkeit. Ich bin in diesem Sinne absolut für mein Erleben verantwortlich.

Als ich das verstand, veränderte sich meine Sprache. Aus dem leidvollen „Du hast mir weh getan“ wurde „ich fühle Schmerz“. Aus „er hat mich verlassen“ wurde „ich fühle mich einsam“. Ich sah mich plötzlich wie eine Art Eisberg, dessen größter Teil mir noch unbekannt war. Neugierig  begab ich mich auf die innere Expedition, um zu erkunden, was ich selbst von mir und dem Leben hielt. Spiegelten doch die Menschen und die Umstände in meinem Leben mir nur das, was sich im Unterwasserteil meines Eisberges befand.

Die Entscheidung, sich zu lieben

Wie erkundet man ein Eisberg als ein normaler Sterblicher, gehört es doch nicht zum Schulfach? Wie findet dieses tiefe In-Sich-Hineintauchen statt, gerade wenn man vor allem kognitiv gedrillt wurde? Da kann man sich ganz schön unbeholfen fühlen und bei mir war es auch ein Prozess des Lernens und des Auf-Mich-Einlassens. Zuerst brauchte es eine Entscheidung. „Ich erkläre mich zum wichtigsten Menschen in meinem Leben. Ich verspreche mir, mich zu achten und zu lieben, in guten wie in schlechten Zeiten, bis dass der Tod uns scheidet.“ Anfangs hatte ich die Illusion, dass diese einmalige Entscheidung für mich  ausreichen würde, um mein Leben zu ändern. Doch dann ist mir klar geworden, wie wichtig die Bewusstheit und die Präsenz auf diesem schöpferischen Wege der Selbsterfahrung sind.

Meine Zukunft gestalte jetzt ich. Jeder Augenblick, in dem ich wahrnehme und interpretiere, pflanzt sich fort. Von meiner Fähigkeit, ganz im Kontakt mit mir selbst zu sein, mich im  Jetzt zu reflektieren und mein Verhalten bewusst auszuwählen, hängt meine Kreationsleistung ab. Und daher muss die Entscheidung, sich zu lieben, für sich selbst da zu sein, jeden Tag aufs Neue gefällt werden, wenn nötig, sogar dutzende Male am Tag.

Wie bitte geht „Hingabe“?

„Ich liebe mich selbst“ ist leicht gesagt, und doch blieb die Selbstliebe für mich nicht einfach. Manchmal kam es mir vor wie eine Oase in der Wüste, nach der ich sehnsüchtig griff: Ich bemühte mich so sehr, sie zu erreichen, und trotzdem entwischte sie mir. Stattdessen sah ich Hindernisse vor mir, auf die mein Ego nicht vorbereitet war. Es war leicht, mich in Situationen zu lieben, in denen ich glücklich, erfolgreich und gesund war. Doch je mehr ich mich beobachtete, um so mehr kam ich in Kontakt mit den Gefühlen, die ich allesamt als unschön einstufte: Da waren die Angst, der Schmerz, die Ohnmacht, die Wut, die Erniedrigung, die Schwäche, Misstrauen und Verzweiflung, um nur einige davon zu nennen. Ich sah die unbewussten Anteile in mir, die sich klein, minderwertig, schuldig und als Opfer fühlten. Und diese passten überhaupt nicht zu dem strahlenden spirituellen Ziel-Bildnis, das ich mir ausgemalt habe.

Das also waren die Übeltäter, die mir diese wenig wünschenswerte Wirklichkeit kreiert hatten! Und die kamen mir während einer geschäftlichen Verhandlung oder eines Dates völlig ungelegen! Wenn sie nicht wären, wäre ich schon längst erleuchtet! Aus diesem Impuls heraus fing ich an, diese Gefühle zu unterdrücken, mich gegenüber diesen inneren Stimmen taub zu stellen. Doch auf Druck folgte Gegendruck, je mehr ich mich davon abwendete, um so lauter wurden sie und ein neuer Teufelskreis entstand.

Jeder von uns ist ein Reisender. Und oft ein Umherirrender, der verzweifelt nach dem Weg sucht – aber leider im Außen. „Was soll ich tun, wie soll ich mich verhalten, um den Erwartungen anderer zu entsprechen und um hoffentlich die Liebe zu erfahren, die ich zum Überleben brauche?“ So dachte früher auch mein inneres Kind. Als Kinder machten wir die Erfahrung der totalen Abhängigkeit von den Eltern und unser Unbewusstes begann zu glauben: „Ich bin schwach, ich bin klein“. Als Kinder erlebten wir oft, dass uns nur unter bestimmten Bedingungen die Aufmerksamkeit zuteil wurde, die wir uns wünschten. So lernte unser Unbewusstes, nicht bedingungslos liebenswert zu sein. Mit solchen Glaubenssätzen wuchs man heran und die Angepasstheit schlug immer tiefere Wurzeln: „Wie muss ich sein? Wie darf ich nicht sein?“ Viele leben mit dieser kindlichen, existenziellen Haltung ihr ganzes Leben.

Erwachen. Der Kampf ist vorbei

Manchmal müssen wir viele Runden dieses Leidens drehen, sie sind wie Dantes Kreise der Hölle, bevor wir demütig aufgeben und nicht mehr kämpfen, nicht mehr haben wollen, sondern sein und geschehen lassen. Damit sein, was ist. Sich vom Herzen führen lassen. Das ist der Augenblick des Wunders, in dem sich die himmlischen Schleusen öffnen. Das ist der Augenblick des totalen Ja zu sich selbst. Hier hört die Abspaltung auf, hier akzeptiert man die eigene Menschlichkeit, Endlichkeit und Verletzlichkeit, und hier entfaltet sich die innere Stille, die uns unsere Göttlichkeit, Unendlichkeit und Kraft erfahren lässt.

Wenn die Zeit des Erwachens kommt, erhält die Selbsterfahrung eine neue, heilsame Qualität. Sie wird zur Helden-Reise der Mutigen, die bereit sind, sich selbst kompromisslos ins Gesicht zu schauen. Unterwegs werden die Heldin und der Held aber noch mit einigen Grundaufgaben konfrontiert.

„Aha, das bin ich“

Erstens geht es darum, die eigene innere Wirklichkeit zu erleben, ohne diese zu beschönigen und ohne diese schlecht zu machen. Bin ich bereit, meine Gefühle in meiner Aufmerksamkeit zu halten, mich mit allem, was sich zeigt, auszuhalten oder neugierig zu betrachten, ohne es auf meine Nächsten zu projizieren? Ist es mir möglich, meine schöpferische Leistung zu würdigen und hinter allen Erfahrungen einen Nutzen, eine zu lernende Lektion für mich zu sehen? – Dann verändern sich die Gefühle für gewöhnlich oder lösen sich sogar auf.

„Ich darf sein. Ich liebe mich“

Während die Heldin früher nach Liebe und Anerkennung im Außen gelechzt hat, geht es jetzt darum, diese sich jetzt selbst zu geben. Bin ich bereit, mich selbst liebevoll in den Armen zu halten? Meine Menschlichkeit mit allen Ecken und Kanten anzuerkennen? Mich und mein inneres Kind, mich und meinen inneren Kritiker, mich und meinen inneren Kneifer… Bin ich bereit ihnen zu zuhören, sie zu verstehen und ab jetzt an selbst auf deren Bedürfnisse zu achten? Diese inneren Anteile sind mit allerlei Glaubenssätzen aus der Vergangenheit identifiziert und haben ihre wahre Natur vergessen. In der Welt der Anpassung durften sie nicht sein.

„Ich bin vollkommen und unschuldig so, wie ich bin“

Daraus ergibt sich die dritte Aufgabe, sie zu erinnern und mit ihnen gemeinsam in der Stille des Herzens zu horchen. Dort entdeckt der Held neben dem alten Schmerz seine göttliche Vollkommenheit und Unschuld, dort spürt die Heldin ihre Fülle, dort spüre auch ich die Liebe, die mein Herz zum Überfließen bringt. Ich kann mir alle Situationen in meinem Leben verzeihen, in die ich mich jemals hineingebracht habe.

Da, wo die eine Reise zu Ende geht, beginnt eine neue. Wenn ich mit meinen inneren Aspekten in einen friedvollen Kontakt gekommen bin, wenn ich mich selbst mit Liebe genährt habe, erst dann werde ich bereit sein zu lieben und Liebe zu geben. Doch das ist eine andere Geschichte. (2016)

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